Jesse Bullington
Vom Tode verwest
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»Vom Tode verwest« von Jesse Bullington
Ende des 15. Jahrhunderts: Boabdil, der Emir von Granada, verliert seine Territorien endgültig an den katholischen König Ferdinand. Nicht nur dass er vernichtend geschlagen wurde, Ferdinand nimmt auch noch seine wunderschöne Tochter Axia als Geisel. Boabdils einzige Möglichkeit die geliebte Tochter zurückzubekommen besteht darin, sie gegen eine noch schönere Jungfrau auszutauschen. Jahrelang sucht er nach diesem perfekten Mädchen, und als er endlich die umwerfende Omorose gefunden hat, schickt er sie mit Dienern und Eunuchen zu König Ferdinand. Aber das Schiff der Reisenden wird von Korsaren versenkt, und die ganze Gruppe verschwindet spurlos. Omorose, der Eunuch Halim und die schwarze Sklavin Awa - unsere Protagonistin - können sich zwar ans Ufer retten, fallen aber postwendend zuerst einer Räuberbande und anschließend einem skrupellosen Nekromanten in die Hände. Dieser Nekromant lebt auf einer verlassenen Bergspitze, und erwählt seine drei Gefangenen zu seinen Famuli - er bildet sie in der Nekromantie aus.
Die Perspektive wechselt zu Niklaus Manuel Deutsch, einem Söldner aus Bern, der in einem Krieg in der Lombardei kämpft. Manuel ist gerade auf dem Schlachtfeld unterwegs um Skizzen der Gefallenen anzufertigen, denn eigentlich ist er Maler. Diese Tätigkeit sichert jedoch nicht seinen Lebensunterhalt und so ist er gezwungen, sich und seine Familie als Söldner durchzubringen. Er wird zu seinem Obristen, Albrecht vom Stein, gerufen und erhält den Auftrag eine gefährliche Hexe (in Ketten gelegt, geknebelt und in einen Sack verpackt) an die spanische Grenze zu einem Inquisitor zu bringen. Dafür soll es eine fürstliche Belohnung geben, mit der Manuel endlich das Kriegsgewerbe an den Nagel hängen und sich ganz der Malerei widmen könnte. Das Problem an der Sache: Manuel glaubt nicht an Hexerei und beschließt seinem Gewissen folgend - Belohnung hin, Belohnung her - die arme Frau zu befreien. Mit dem erbitterten Widerstand seiner drei Kameraden hat er nicht gerechnet und zu seiner Überraschung rettet die Gefangene ihm das Leben indem sie seine Gefährten tötet. War da etwa tatsächlich Magie im Spiel?
Mein Interesse an diesem Buch wurde geweckt, weil die Hauptfigur Awa eine Nekromantin ist. Nekromanten finde ich faszinierend, allerdings begegnet man ihnen eher in Computerspielen als in Büchern - also war klar, das muss ich lesen! Die Idee zum Buch ist meiner Meinung nach sehr innovativ und auch die Umsetzung ist gelungen: Awa kann nicht nur lebende Tote erschaffen und manipulieren, sie verfügt auch über eine Vielzahl weiterer gut durchdachter magischer Fähigkeiten.
Damit wären wir schon beim nächsten wichtigen Punkt, die Figuren: Jesse Bullington hat hier wirklich gute Arbeit geleistet, die Figuren sind schrullig, skurril, haben Tiefe und überzeugen durchgehend. Jeder hat seine Macken und Stärken: Awa ist manchmal ein wenig naiv, aber nicht dumm. Niklaus Manuel kennt auf dem Schlachtfeld keine Gnade, ist aber trotzdem ein Feingeist. Und Monique redet zwar wie ein Bierkutscher, hat aber trotzdem das Herz auf dem rechten Fleck und ist immer für ihre Freunde da.
Das ganze Buch lebt eigentlich durch die Figuren, durch sie werden manche Szenen zum Brüllen komisch, andere leben von ironischen Wortgefechten und in wieder anderen werden so ekelhafte nekromantische Praktiken beschrieben, dass einem fast schon übel wird. Dennoch weidet der Autor sich nicht seitenlang an solchen Dingen, er schildert sie sogar fast nüchtern.
Mit dem Stil des Autors hatte ich leider zu Beginn etwas zu kämpfen. Er versucht sich der Zeit anzupassen, und verwendet eine altmodische Sprache, die ein wenig hölzern wirkt und wirklich anstrengt. Allerdings muss ich sagen, dass ich mich nach einer Weile daran gewöhnt hatte und der Handlung nach wenigen Kapiteln leichter folgen konnte als noch zu Anfang des Buches. Dazu im Kontrast steht die Sprache, die Bullington seinen Figuren in der wörtlichen Rede in den Mund legt - die ist oftmals sehr derb, eigentlich schon ordinär - daran (wie auch an den häufigen, bildhaft geschilderten Sexszenen) wird sich sicher der ein oder andere Leser stören. Allerdings ist er damit wohl näher an der tatsächlich gesprochenen Sprache der Epoche, als so mancher Autor historischer Romane, die ihre Figuren oft sehr modern sprechen lassen - sowohl inhaltlich als auch im Ausdruck.
Die vielen wirklich seltenen Fremdwörter hemmten zusätzlich ein wenig den Lesefluss - es ist mir schon lange nicht mehr passiert, dass ich zur Lektüre eines Unterhaltungsromans soviele Wörter im Duden nachschlagen musste. Aber bei Begriffen wie Petitesse, scharmützieren, Autodafé, Miasma, füsilieren, Phantasmagorie, Hekatombe oder Apologet musste ich definitiv passen. Da soll noch mal einer sagen, aus Belletristik könne man nichts lernen...!
Es fällt mir schwer, dieses Buch in eine Schublade zu packen: es gibt definitiv Horror- und Fantasyelemente , man könnte es also der Dark Fantasy zuordnen. Andererseits spielt es vor einer realen, wenn auch historischen, Kulisse und Jesse Bullington hat auch einige historische Persönlichkeiten -entweder als Nebenfiguren oder zumindest durch Anspielungen der handelnden Charaktere - einfließen lassen, beispielsweise Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, den Arzt und Gelehrten Paracelsus, "den verrückten englischen König" - Henry VIII., den Borgia-Papst Alexander VI. und Papst Leo X. Zu meiner Überraschung waren auch der Emir Boabdil, Niklaus Manuel Deutsch und Albrecht vom Stein real existierende historische Personen. Somit wäre vielleicht sogar eine Zuordnung zur Urban Fantasy denkbar.
Niklaus Manuel Deutsch war übrigens tatsächlich ein Maler, Dichter und später sogar Politiker, der sich eine Zeitlang als Söldner durchgeschlagen hat. Ausgerechnet ihm eine Freundschaft mit einer Nekromantin anzudichten, ist fast schon ein genialer Schachzug, denn sein berühmtestes Werk war der Berner Totentanz . Das 80 Meter lange Wandgemälde befand sich auf der Außenwand eines Dominikanerklosters, und stellte in 41 Szenen dar, wie der Tod mit Vertretern verschiedener Stände (Adel, Klerus, Bürger, sogar die Heiden waren vertreten) tanzt.
Alles in allem ist "Vom Tode verwest" wirklich ein tolles Buch, das mich in seiner Vielschichtigkeit und mit seinen unerwarteten historischen Verknüpfungen sehr überrascht hat. Als Kritikpunkte kann ich eigentlich nur den gewöhnungsbedürftigen Stil des Autors und die vielen ausgefallenen Fremdwörter (die teilweise leicht durch Geläufigere zu ersetzen gewesen wären) in die Waagschale werfen. Insgesamt komme ich so auf solide vier Sterne für diesen Titel - sowohl Horror- als auch Fantasyfans können hier in eine ungewöhnliche, teils düstere, teils komische und auf jeden Fall unterhaltsame Geschichte abtauchen.