Stephenson, Neal
Diamond Age, die Grenzwelt
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»Diamond Age, die Grenzwelt« von Stephenson, Neal
Mitte des 21.Jahrhunderts. Alle Nationalstaaten sind zerfallen.
Die alten, kulturellen Stätte der Welt überleben bestenfalls
noch als nostalgische Freizeitparks für Touristen. New Chusan, Chinesische
Küstenrepublik, entsteht. Ein Nest der Korruption und Intrigen, umgeben
von zahlreichen künstlichen Inseln, deren Gebiete in einzelne Klaven
unterteilt sind und von unterschiedlichen Stämmen bewohnt werden.
Wobei jeder für sich seinen eigenen Gesetzgebungen und Protokollen
folgt.
Das Zeitalter der Nanotechnologie ist angebrochen. Diese ermöglicht
es, fast jeden Wunsch zu erfüllen und bestimmt schon längst
das Leben der Menschen. Ein gigantisches Informations- und Überwachungsnetz
protokolliert sämtliche Vorgänge innerhalb der einzelnen Klaven.
Einer der großen Anteil am Aufbau dieses Netzes hat, ist der geniale
Nanotechniker John Percival Hackworth, der mit seiner Familie in der Klave
New Atlantis lebt. Dort spielt der gesellschaftliche Status noch immer
eine bedeutende Rolle. In New Atlantis werden die gesellschaftlichen Unterschiede
in der Formgebung der Nachrichtenübermittlung deutlich. Nur die höchsten
gesellschaftlichen Schichten erhalten ihre Nachrichten auf mit Tinte beschriebenen
Papier, in Form der Times. Gedruckt auf einer antiken Presse, die jeden
Morgen etwa einhundert Exemplare herstellt. Eine solche auf Papier gedruckte
Times bekommt John P. Hackworth zwar nicht, dafür aber immerhin alle
Nachrichten, die seinem gesellschaftlichen Status angemessen sind.
Hackworth ist mit seinem Leben recht zufrieden, hält sich an die
Protokolle und ist darüber hinaus ein loyaler Mitarbeiter seiner
Firma. Alles geht seinen gewohnten Gang, bis zu dem Tag, als Hackworth
einen ganz besonderen Auftrag erhält.
Die Erstellung einer "Illustrierten Fibel für die junge Dame".
Ein interaktives Lehrbuch, daß sich auf wundersame Weise auf seinen
Leser einstellt und ihn über viele Jahre hinweg mit Wissen und Informationen
versorgt. Das Wissen, daß der Leser sich auf diese Weise aneignet,
ist von unschätzbarem Wert. Wen wundert es da, daß es lediglich
der herrschenden Klasse vorbehalten ist, ein solches Erziehungsprogramm
zu besitzen. Hackworths Wunsch, seiner kleinen Tochter ein ganz besonderes
Geburtstagsgeschenk zu machen, läßt ihn jedoch alle guten Vorsätze
vergessen.
Er verstößt gegen alle Regeln seiner Kaste, als er sich eine
illegale Kopie der Fibel anfertigen läßt. Zu diesem Zweck begibt
er sich in das obskure Atlantis/Schanghai und trifft dort auf den mysteriösen
Dr.X, mit dessen Hilfe es ihm schließlich gelingt sein Vorhaben
in die Tat umzusetzen. Überglücklich macht er sich auf den Weg
zurück nach New Atlantis, nicht ahnend, daß er zu diesem Zeitpunkt
längst zum Spielball politischer Machenschaften geworden ist. Eine
Bande jugendlicher Straftäter überfällt ihn, wobei die
Kopie der Fibel verloren geht und in die Hände der kleinen Nell gerät.
Sie erlebt eine phantastische Geschichte, dringt dabei immer tiefer in
die unglaublichen Geheimnisse der Fibel ein und langsam beginnen die Dinge
und die Welt sich zu verändern.
Für John Percival Hackworth jedoch beginnt ein Albtraum, der über
jede menschliche Vorstellungskraft hinausgeht.
Neil Stephenson, 1959 in Maryland geboren, konnte schon mit seinem
ersten Cyberpunk-Roman, "Snow Crash", überzeugen. Mit Diamond
Age stellt er auch diesmal wieder unter Beweis, wie intellektuell herausfordernd
Science Fiction auch heute noch sein kann. Ein Roman der mehr als nur
zu fesseln vermag und darüber hinaus eine Prophezeiung zukünftiger
Ereignisse, die von Seite zu Seite immer mehr an Glaubwürdigkeit
gewinnt. Wer über Science Fiction mitreden will kommt an Diamond
Age nicht vorbei.
Kernpunkt der Story ist die Entwicklung der Nanotechnologie, die
das Leben und agieren der Menschen in allen Bereichen entscheidend beeinflußt
und verändert hat.
Dabei war die kulturelle Frage, was damit gemacht werden sollte, weitaus
wichtiger als die, was damit gemacht werden konnte. Ein gefährlicher
Gedanke, der sich über alle Protokolle und Moralvorstellungen hinwegsetzt.
Ein völlig neues Mediennetz ist errichtet, wodurch es der Regierung
unmöglich geworden ist, finanzielle Transaktionen zu überwachen
oder zu kontrollieren. Dadurch wird das Steuersystem hinfällig und
gehört der Vergangenheit an.
Besonders beeindruckend sind die vielen Details, die immer wieder Parallelen
zu bekannten historischen Ereignissen aufweisen. Da werden Erinnerungen
an die Boxeraufstände in China oder an Mao's Kulturrevolution wach.
Faszinierend das Kapitel, indem er auf eindrucksvolle Weise das grundlegende
Funktionsprinzip der legendären "Turing-Maschine" beschreibt.
(Allan M. Turing, erfand in den 30er Jahren die Turing-Maschine, Vorreiter
der künstlichen Intelligenz.)
Der aufmerksame Leser ließt auch zwischen den Zeilen und geht dabei
auf Entdeckungsreise, ohne den eigentlichen Spaß an der Geschichte
zu verlieren. Die Dialoge finden auf hohem Niveau statt und runden das
ganze zu einem Roman ab, der auch höchsten Ansprüchen gerecht
wird.
Für mich persönlich, vielleicht das beste an Science Fiction,
was ich in den vergangenen Jahren gelesen habe, und das war bestimmt nicht
wenig.
Fazit: Ein phantastischer Blick in die (mögliche) Zukunft.
Die Phantasie des Autors sprengt alle Grenzen, gepaart mit technischem
Sachverstand schafft er ein Meisterwerk der Science Fiction Literatur,
daß zu keiner Zeit den Eindruck erweckt, als würde es bloß
aus zusammengetragenem Stückwerk einer aufwendigen Recherche bestehen.
Ein Roman, der zurecht mit dem "Hugo Award" ausgezeichnet wurde.
Neil Stephenson hat einen Kultroman geschaffen, der ihn zu einem der ganz
großen Science Fiction Autoren unseres Jahrhunderts macht.
Sicher kein einfacher Roman, der nach der ganzen Aufmerksamkeit des Lesers
verlangt. Ein verwirrendes und unlogisch erscheinendes Puzzle, daß
sich auf 600 Seiten langsam zusammensetzt und am Ende ein völlig
neues Bild von einer Welt ergibt, in der hochentwickelte Technologie,
Mystik und religiöser Fanatismus eng beieinander liegen.
Der Titel "Diamond Age" entpuppt sich schließlich als
ironische Metapher und bezeichnet eine Welt, in der technologische Errungenschaften
das Maß aller Dinge und Gedanken lediglich Teil eines gigantischen
Informationsnetzes sind.
Ich bewerte dieses Werk mit einer glatten 10, auf einer nach oben
offenen Richterskala.