Terry Pratchett Scheibenwelt 39
Das Mitternachtskleid
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»Das Mitternachtskleid« (Scheibenwelt 39) von Terry Pratchett
Tiffany ist die zuständige Hexe für die gesamte Kreide, was auch für eine erfahrene Hexe ein großes Gebiet wäre. Zusätzlich ist sie die erste Kreidehexe überhaupt. Sie schuftet sehr schwer, bürdet sich selbst zu viel Arbeit auf und wird aber auch von den Dorfbewohnern gedrängt. (Hexen übernehmen die ärztliche und die Altenpflegeversorgung, sowie psychologische und rechtsberatende Betreuung, wenn nötig.) Für Tiffany bedeutet dies, alten Frauen die Zehennägel zu schneiden und einem Sterbenden jeden Tag die Schmerzen zu nehmen- die allzu leicht auf sie überspringen könnten. Doch obwohl sie "eine von uns" ist und aus der Kreide stammt, misstrauen die Dörfler dem spitzen Hut und werden zunehmend ablehnender. Tiffany droht schon an Alltäglichkeiten zugrunde zu gehen, als sie zusätzlich auch mit Bedrohungen von außen konfrontiert wird. Die Ereignisse aus dem Vorgängerband schlagen starke Wellen, denn dadurch ist etwas Böses geweckt worden, das nicht nur Tiffany, sondern allen Hexen der Scheibenwelt gefährlich wird.
Der Autor
Terry Pratchett, *28. April 1948 in Großbritannien, ist nach J. K. Rowling der zweiterfolgreichste britische Schriftsteller. Im August 2010 hat er insgesamt 65 Millionen Bücher in 37 Sprachen verkauft. Seine bekanntesten und beliebtesten Werke sind die Scheibenwelt-Romane, daneben hat er aber auch SF- und Fantasybücher sowie einige Kollaborationen mit anderen Autoren verfasst, des Weiteren diverse Kurzgeschichten und pseudo-bzw. populärwissenschaftliche (Scheibenwelt)-Sachbücher. Für seine Verdienste um die Literatur wurde er 2009 zum Ritter (OBE) geschlagen. Im Dezember 2009 gab Pratchett bekannt, dass er an einer seltenen Alzheimer-Form erkrankt ist, und engagiert sich seitdem in der Demenzforschung. Außerdem setzt er sich seither für eine Legalisierung des "assisted suicide" (Tötung auf Verlangen) in Großbritannien ein.
Die Serie
Die Scheibenwelt-Serie handelt von einer platten Welt, die von vier Elefanten getragen wird, die ihrerseits auf dem Rücken einer Schildkröte stehen. Naturgesetze sind anthropomorphisiert; so sind der Tod, Krieg und Konsorten eigenständige Wesen (und tauchen häufig auf). Magie ist gang und gebe, skurrile Phänomene an der Tagesordnung. Viele Bewohner der Scheibenwelt verfügen über eine hintergründige Bauernschläue, die den gelehrten Magiern häufig überlegen ist. Zu Beginn zeichneten sich die Romane durch tiefgründigen Humor und viele satirische und parodierende Elemente aus, in denen man einiges aus Hoch- und Popkultur wiedererkannte. Im Laufe der Zeit wandelte sich der Schreibstil zu sehr viel offensichtlicherem Witz. Der teilweise sehr britische Stil (und Humor) macht es Übersetzern schwer.
Im September 2011 sind 39 Scheibenweltromane erschienen.
"Das Mitternachtskleid" (2011), (OT: I Shall Wear Midnight, 2010) ist der vierte Tiffany Weh- und der 38. Scheibenweltroman. Tiffany hat sich im Laufe der Serie von einem kleinen Mädchen zu einer vielversprechenden Junghexe entwickelt. Jetzt im Teenageralter, hat sie sich den Respekt der anderen Hexen verdient. Tiffany steht unter dem besonderen Schutz der "Wir-sind-die Größten", einem Koboldstamm aus kleinen blauen Männern, die extrem stark, extrem kampfeslustig, extrem alkoholfreudig und extrem schwer wieder loszuwerden sind.
Rezension:
Es ist schwer, zu diesem Werk eine Inhaltsangabe zu schreiben, denn es ist deutlich introspektiver als die Vorgänger. Tiffany denkt sehr über ihre Rolle und Verantwortung als Hexe nach, muss aber irgendwann erkennen, dass sie auch als Tiffany ein Recht auf persönliche Freiheit hat. Außerdem sind auch Hexen nicht fehlerfrei: da sie kurzerhand das aus ihrer Sicht Beste für andere durchsetzt, macht sie sich Feinde. Hinzu kommen private Probleme, die jedes 16jährige Mädchen hat. Da Tiffany sich allerdings selbst als Hexe außerhalb der Dorfgemeinschaft (und teilweise darüber erhaben) sieht, kann sie weder Hilfe noch Ratschläge annehmen. Im Grunde behandelt der Roman Tiffanys Schritt zur Erwachsenen, was auch der Titel wiederspiegelt, denn Tiffany will erst das traditionelle Hexenschwarz tragen, wenn sie alt ist.
Der böse Feind ist im Grunde genommen keine allzu schreckenerregende Figur, wenn man sich die Gespräche der übrigen Hexen auf dem Fest vergegenwärtigt. Genaueres mag ich nicht schreiben, aber auf mich machte er den Eindruck eines "hier muss ja noch ein Monster rein"-Lückenbüßers. Ich fand es ein bisschen schade, denn bislang konnte man mit fast allen Scheibenweltcharakteren mitfühlen, auch mit denen auf der Gegenseite. Die Handlung selbst wirkt stellenweise auch ein wenig zusammengeschustert. Sehr viele aus früheren Romanen bekannte Charaktere werden kurz angesprochen, auch wenn sie eigentlich nicht zur Handlung beitragen, sogar Personen aus den allerersten Scheibenweltromanen, die man schon längst als abgehakt einsortiert hat.
Man muss natürlich Pratchetts Gesundheits- und wahrscheinlich auch Gemütszustand berücksichtigen, aber der mir so liebgewonnene Humor ist hier bittersüß. Pratchetts Romane haben mich sonst immer zum Lachen gebracht und mich in eine bessere Stimmung versetzt. Das Mitternachtskleid war eher deprimierend und ich meine auch eine gewisse Resignation herausgelesen zu haben. Viele der Scheibenweltler sind auf eine gewitzte Art und Weise naiv oder vertreten das, was man als Bauernschläue bezeichnet, sind aber im Grunde ihres Herzens gut. Der Roman reißt diese Maske herunter und zeigt, dass in jedem eine ganze Menge Bosheit (hier "die Hetze" genannt) steckt, die auch immer wiederkehrt und nicht besiegt werden kann. Ebenfalls auffallend waren die recycelten Witze. Einige Sachen, wie "die Krankheit, die bei soundso vielen anderen Arten auftritt und eine davon nur bei Süßwasserfischen... " sowie einige andere Witze standen genau in dieser Form schon in anderen Scheibenweltromanen. Auf solche Sachen sollte ein Lektor auch ein Auge haben. Die Übersetzung ist meiner Meinung nach nicht herausragend, da eine neue Übersetzerin verpflichtet wurde. Vielleicht ist ihre Art tatsächlich näher am Original, aber ich fände es besser, wenn bereits etablierte Begrifflichkeiten und Umgangsformen beibehalten werden und die Übersetzerin nicht partout ihren eigenen Stil durchsetzen wollen würde.
Insofern lässt mich das Buch mit einem weinenden und einem lachendem Auge zurück. Lachend, da die Scheibenwelt-Bücher im Vergleich zum sonstigen Genre immer noch mit zum Besten auf dem Markt gehören. Weinend, da man doch schon Auswirkungen merkt.
Als Kinderbuch sollte man diesen Band nicht mehr ansehen (meines Erachtens sind das auch die anderen Tiffany-Bücher nicht, obwohl so ausgeschrieben). Tiffany erlebt als Hexe so einiges, über das man in der Dorfidylle üblicherweise lieber den Mantel des Schweigens deckt. Dabei ist die Frau, die "nur die Treppe hinuntergefallen oder gegen die Schranktür gelaufen ist" noch das Harmloseste. Die Gewaltanwendung ist in diesem Buch auch stärker als in anderen. Zwar wurde auf der Scheibenwelt schon immer gemetzelt und über Leichenfelder hinweggestiefelt, aber die Toten hatten meistens einen Auftritt als Geist und Tod brachte sie dann entweder ins verdiente Paradies oder in die persönliche Hölle, wodurch der Tod deutlich weniger einschneidend ist. Hier taucht der Tod in einem Fall zwar auch auf, in einem anderen tragischen Fall aber eben nicht. Pratchett spricht sich auch deutlich für die Sterbehilfe oder zumindest dafür aus, das Leben und Leiden nicht künstlich zu verlängern, was man zu Beginn der Handlung spürt.
Fazit:
Für jeden Fan natürlich ein echtes Muss, vor allem auch, da es die Tiffany-Weh-Reihe abschließt. Für Neulinge ungeeignet, da sollte eher mit "Kleine freie Männer" oder einem anderem Scheibenweltbuch angefangen werden. Im Vergleich zu den anderen deutlich schwächer, im Vergleich zur übrigen Fantasy größtenteils besser. Und da es mir in der Seele weh tut, einem Pratchett etwas anderes als die Bestnote zu geben, vergebe ich trotz Schwächen und Kritikpunkten die volle 10-Sterne-Punktzahl. Möge es jeder Interessierte selbst lesen und sich ein Urteil bilden, an Pratchett scheiden sich ohnehin die Geister. Um das Fandom zu zitieren: "Entweder man liebt Pratchett- oder man versteht ihn nicht" ;).